Mit einer großangelegten Feldforschung haben Wissenschaftler*innen der Fachhochschule Dortmund sich dem Thema Obdachlosigkeit genähert und dabei den Fokus auf die Betroffenen gelegt. Die nun vorliegende Studie basiert auf der Auswertung von Interviews. Sie bietet neue Ansätze für die Präventionsarbeit und beschreibt wissenschaftlich die Lebenssituation von Wohnungs- und Obdachlosen am Beispiel Dortmund.
„Das Leben auf der Straße ist gesundheitlich und psychisch höchst belastend“, sagt Tim Sonnenberg (Öffnet in einem neuen Tab) , Doktorand an der FH Dortmund mit Mitherausgeber des Buchs „Die ‚Unsichtbaren‘ im Schatten der Gesellschaft – Forschungen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit am Beispiel Dortmund“ (ISBN 978-3-658-31262-6) (Öffnet in einem neuen Tab) . Es dominierten Ausgrenzung, Konkurrenz, Vertreibung, aber auch Gewalt und Machtmissbrauch. Es sei ein täglicher Kampf ums Überleben. „Niemand tut sich das freiwillig an“, so Tim Sonnenberg. Die gesellschaftspolitische Aussage, dass keine*r in Deutschland auf der Straße leben müsse, greife zu kurz.
Bislang wenig konkretes Wissen über Obdachlose
„Wohnungs- und Obdachlose gehören inzwischen in nahezu jedes Stadtbild“, bilanziert Prof. Dr. Dierk Borstel (Öffnet in einem neuen Tab) , Sozialwissenschaftler der FH Dortmund. Um so überraschender sei das wenige, konkrete Wissen zu dieser Personengruppe. Die Forschung aus Dortmund solle daher etwas Licht ins Dunkel bringen. Wer sind diese Menschen? Was für Geschichten liegen hinter ihnen? Wie gestaltet sich ihr aktuelles Leben? Was sind ihre Hoffnungen und Wünsche?
Die Biografien von Obdach- und Wohnungslosen sind sehr vielschichtig: Doch ob Arbeiter*innen, Geflüchtete oder Jugendliche – dem Verlust der Wohnung geht zumeist ein langer, individueller Prozess voran, der in Obdachlosigkeit mündet. Die Autor*innen der Studie sprechen von „Bruchstellen“ und „zugespitzten Lebenskrisen“. Das Leben auf der Straße bedingt dann neue Probleme und Krisen, mitunter werden Alkohol und Drogen bei den Betroffenen zur Strategie der Bewältigung. Das Überleben allein kostet alle verfügbaren Kräfte. Feste Termin etwa bei Behörden seien zum Teil nicht mehr möglich. „Dies wird dann oft als fehlende Mitwirkungswilligkeit interpretiert“, berichtet Tim Sonnenberg.
Neue Chancen für Präventionsarbeit
Gemein ist den Lebensgeschichten der Betroffenen, dass immer wieder Präventionsarbeit möglich gewesen wäre. „Obdach- und Wohnungslosigkeit muss in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit stärker in den Fokus rücken – von der Jugendhilfe bis zur Justizsozialarbeit“, sagt Tim Sonnenberg. Aus den Biografien der Betroffenen haben die Forscher*innen Risikofaktoren abgeleitet und Handlungsempfehlungen für das Zusammenspiel von Verwaltung, Sozialer Arbeit und ehrenamtlicher Hilfe entwickelt.
Das Hilfesystem müsse weg von einem verwaltend-verwahrenden Ansatz hin zu einer individuellen Fallanalyse, so die Autor*innen. Obdachlosigkeit dürfe nicht einfach ausgeblendet werden. Es bedürfe gesellschaftlicher Wahrnehmung, um zu handeln. Die meisten Betroffenen fühlten sich insgesamt nicht nur diskriminiert, sondern auch unter Missachtung jeglicher Menschenwürde behandelt, was sich wiederum in einer Ablehnung auch gegenüber bestehenden Hilfseinrichtungen widerspiegelt. Dieser Kreis müsse durchbrochen werden. Dafür bedürfe es Brücken zwischen dem bürokratischen System und der Lebenswelt auf der Straße.
Hintergrund: Obdachlosen-Studie
Die Daten für die Studie wurden an einem Aktionsforschungstag (20. Mai 2019) in Dortmund erhoben. Ein großes Team aus Wissenschaftler*innen und 80 Studierenden hat dabei einen Tag lang obdach- und wohnungslose Menschen im Stadtgebiet gezählt und befragt. Die Befragungen erfolgten ausschließlich auf freiwilliger Basis. Mit einigen Betroffenen wurden Tiefeninterviews geführt. Die quantitative Auswertung des Aktionsforschungstags ergab bereits eine deutlich höhere Zahl an Betroffenen als zunächst angenommen. Die qualitative Auswertung der Interviews gaben den Wissenschaftler*innen tiefe Einblicke in die Strukturen der Szene.