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Nachruf auf Andreas Seier

Veröffentlicht

In der Nacht zum Montag verstarb unser Lehrbeauftragter Andreas Seier. Er war für mich bei weiten nicht nur ein Kollege, sondern vor allem auch ein verlässlicher Freund und zusammen mit seinem Mann Tim ein stetiger Begleiter, seitdem es mich nach Dortmund verschlagen hatte.

Andreas war ein Kind des Ruhrgebiets und bekennender, linker Lokalpatriot Bochums. Aufgewachsen in einer typischen Arbeiterfamilie in der damals noch von Kohle und Stahl geprägten Stadt besuchte er dort das städtische Gymnasium und brachte Noten nach Hause, von denen ich im Abi nicht zu träumen wagte. Er engagierte sich bei JungdemokratInnen/Junge Linke, dem Asta der Ruhr Uni Bochum, entdeckte seine Homosexualität und infizierte sich als junger Mann mit dem damals neuen HI-Virus. Das war zu einer Zeit, als dies noch als sicheres Todesurteil galt. Doch er hatte Glück und gehörte zur ersten Generation derjenigen, die Dank des medizinischen Fortschritts mit dem Virus zu leben lernten. Und das machte Andreas eindrucksvoll: Basierend auf seiner festen Partnerschaft und späteren Ehe mit Tim genoss er das Leben in vollen Zügen und ich denke:  er holte alles raus, was rauszuholen war.

Kennenlernen

Über eine gemeinsame Freundin lernte ich Andreas und Tim zu Beginn meiner Arbeit an der FH kennen. Sie waren mir beide in allen Krisen und guten Zeiten ein immer verlässlicher Anker. Die gemeinsamen Abende wurden meistens zu langen Gesprächsrunden. Andreas brachte mir dabei die Geschichte und soziale Entwicklung der Stadt näher. Beide zeigten mir auch Plätze, versorgten mich mit Infos zu Fahrradrouten und besonderen Orten des Ruhrgebiets, die ich nicht kannte und ohne sie nie gefunden hätte. Was mich so anzog, war eine besondere Grundstimmung in den Gesprächen: eine ungeheure Liberalität, ein immerwährender Humor, die Freiheit im Denken und eine Offenheit für das Andere, Besondere, Schräge und das vermeintlich Normale zugleich. Da gab es keine Abwertung des Anderen, kein Drüberstehen und die grundlegende Solidarität mit allen, denen es gerade nicht gut ging.

Mitwirkung in Lehrvorschungsprojekt

In den Corona-Semestern holte ich Andreas als Lehrbeauftragten an die FH und führte mit ihm Lehrforschungen zur Armut im Ruhrgebiet durch. Das war in mehrfacher Hinsicht nicht ganz einfach. Zunächst fehlten ihm alle formalen Voraussetzungen für einen Lehrauftrag. Ich bin meinem Dienstherrn heute noch dankbar, dass er der Begründung, dass manche Menschen zwar keine Papiere, aber dafür ein ganzes Leben mitbringen, von dem die Studierenden viel lernen können, ausnahmsweise gefolgt ist. Lehrforschung in Zeiten des Kontaktverbots und der Onlinelehre war dann jedoch kaum möglich und auch kein Vergnügen. Trotzdem öffnete Andreas – ohne es vielleicht immer zu merken – den Studierenden Türen zu Welten, die Sie nicht kannten; aber kennenlernen sollten. Er nutze seine Kontakte für Gespräche der Studierenden mit Menschen in Armut und in schwierigen Situationen und die Studierenden lernten davon.

In der Nacht zum Montag ist Andreas zu Hause im Beisein seines Mannes gestorben. Zuletzt litt er an den Folgen von Longcovid. Ich vermisse ihn sehr und bin in Gedanken bei Tim, seinen Eltern und seinen vielen Freund*innen.

 


Autor des Blogbeitrages